Mit Demonstrator 1.0 wurde ein im Rahmen des Projekts ar4wind entwickeltes AR-Tool im Frühjahr 2022 einer Felderprobung unterzogen. Dabei ging es um die Frage, wie die Nutzer:innen das Tool hinsichtlich seiner Benutzerfreundlichkeit (Usability) und Zweckdienlichkeit bewerten. Die Nutzer:innen machten Angaben dazu, inwieweit das Visualisierungstool WEA standortgetreu und realistisch in Farbe, Größe und Gestalt darstellen.
Mit Blick auf drei angenommene Einflussfaktoren AR-Vorerfahrung, Windenergie-Vorerfahrung und politisches Amt zeigen sich bei der Auswertung kaum nennenswerte Unterschiede im Antwortverhalten. Diese Faktoren scheinen sich weder auf die Bewertung der Zweckdienlichkeit noch auf die der Usability auszuwirken. Grundsätzlich bewertet eine deutliche Mehrheit die Zweckdienlichkeit und die Benutzerfreundlichkeit des Tools bzw. der App positiv.
Die zentrale Erkenntnis der ersten Praxistests ist, dass die Bedienung des Visualisierungstools für Lai:innen voraussetzungsreich ist. Es eignet sich damit als Tool für Expert:innen, Projektentwickler:innen, Mitarbeiter:innen in der Regionalplanung und für Prozessbegleiter:innen, die in Visualisierungsfragen erfahren sind, weniger jedoch für Bürger:innen. Damit „Nicht-Expert:innen“ das Tool nützen können, ist ein intuitiver Zugang zwingend erforderlich. Nur so lassen sich die Anwendungshürden so stark senken, dass sie in dem Format einer Beteiligungsveranstaltung übersprungen werden können. In der ersten getesteten Version war der nötige Aufwand, um die Teilnehmenden zur eigenständigen Bedienung des AR-Tools zu befähigen, unverhältnismäßig hoch. Die eigenständige Durchführung der Gerätekalibrierung (Kalibrierungsmethode A) erschien als sehr große Hürde. Eine Überarbeitung des User Interfaces zeigte sich als dringend erforderlich.
Kommt das Visualisierungstool bei der Öffentlichkeitsbeteiligung vor Ort zum Einsatz? Und kann es dort seine Wirkungen in der praktischen Anwendung entfalten? In der Felderprobungsphase von ar4wind konnten einige Faktoren identifiziert werden, die Einfluss auf das Anwendungssetting haben:
- die Kontaktaufnahme mit Akteur:innen (Stabilität und Komplexität des Akteursnetzwerks)
- die Einbettung in einen übergeordneten Prozess bzw. die Integration in verschiedene Formate der Bürgerbeteiligung
- die individuelle Haltung und das persönliche Engagement von planenden Akteur:innen
- das jeweilige konkrete Setting vor Ort
In der zweiten Testphase im Frühjahr 2023 standen Fragen nach der Passfähigkeit des Tools in Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung (prozessuale Passfähigkeit) im Fokus: Wie gelingt es professionellen Prozessbegleiter:innen, das Visualisierungstool wirksam einzusetzen, um vor Ort Transparenz für zukünftige Windenergieplanungen herzustellen und einen konstruktiven Austausch darüber anzuleiten? Welche Aspekte spielen eine besonders wichtige Rolle, um Ortsbegehungen oder Bustouren erfolgreich im Sinne guter Öffentlichkeitsbeteiligung bei Windenergieprojekten ausrichten zu können?
„Ich fand die Möglichkeit sehr gut, uns vor Ort ein Bild machen zu können. Meiner Meinung nach ist dies ein klarer Vorteil gegenüber denen, die später nur den Link erhalten. Die sehen dann den Link und verstehen, dass sie irgendwo stehen müssen, aber tatsächlich an diesem Punkt zu stehen, ist ein ganz anderes Erlebnis. Jeder Standort hatte seinen eigenen „aha“-Effekt. Man konnte die Relationen sehen, es gab immer etwas, was auffiel und das passte einfach. Dieses Erlebnis, wirklich vor Ort zu sein, finde ich sehr gut.“
Christina Flamme, CDU
Es zeigte sich, dass das AR-Tool besonders für Nutzergruppen wie Fachbehörden und -gutachter:innen, politische Entscheidungsträger:innen in kommunalen Gremien und Expert:innen für Dialoggestaltung und Prozessbegleitung geeignet ist. Der Einsatz dieses Instruments kann als Türöffner für Gespräche mit Flächeneigentümer:innen dienen oder die Arbeit von Regionalen Planungsverbänden und -versammlungen unterstützen. Bevor Regionalpläne erstellt werden, können diverse Planungsszenarien vorab visualisiert werden. Dabei muss die Moderation stets darauf verweisen, dass es sich bei den Visualisierungen um Planungsmöglichkeiten handelt. Im Abstimmungsprozess der Ausweisung z. B. eines neuen Windvorranggebiets auf Regionalplanungsebene können neben Sichtachsenbewertungen auch Visualisierungen einen wesentlichen Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten. Entsprechend können Gebiete als Eignungsgebiete bzw. Vorrangflächen weiterverfolgt oder ausgeschlossen werden.
Aus Sicht der Prozessbegleiter:innen eignen sich große öffentliche Veranstaltungen für den Einsatz des AR-Tools hingegen weniger. Da in jedem Fall eine enge fachplanerische Begleitung und die kontextuelle Einbettung für die betroffenen Bürger:innen sinnvoll ist, bleibt zu klären, wie die Prozessbegleitung dies gewährleisten kann. Knackpunkt ist, wer die Anleitung in solchen Praxisfällen übernimmt und sich in Beteiligungsveranstaltungen „den Hut aufsetzt“. Das sollten professionelle Kommunikationsdienstleister:innen, landesweite Dialogprogramme und zuständige Mitarbeitende in den Landesenergieagenturen absichern. Vor allem häufiger stattfindende, kleinere Formate sind empfehlenswert. Gute Praxiserfahrungen gab es mit Ortsbegehungen, an denen maximal 30 Personen teilnahmen.
In der kritischen Rückschau auf beide Testeinsätze war für die prozessuale Passfähigkeit des Tools unter anderem entscheidend, wie die Initiator:innen und beteiligten Akteur:innen im Vorfeld miteinander kommuniziert hatten. Für die effiziente Vorbereitung von Ortsbegehungen bzw. Bustouren ist Ortskenntnis vonnöten, die sich Prozessbegleiter:innen entweder selbst aneignen oder von Ortsansässigen gut vermittelt bekommen müssen. Eine besondere Herausforderung besteht dabei in der möglichst reibungsarmen Abstimmung darüber, mit welchen Daten (GIS-Software-Daten, Google Maps, Straßennamen/Hausnummern etc.) man das Projekt in der Visualisierungssoftware einrichtet und mit welchen Daten man die Route für den Vor-Ort-Termin plant. Hier kam es öfters zu unverhältnismäßig hohen Interaktionskosten, weil man sich nicht von Anfang an klar auf bestimmte Arbeitsweisen im Vorbereitungsteam verständigt hatte. Zudem ist für alle Beteiligten am Ortstermin Kartenmaterial vorzubereiten, aus dem sowohl die geplanten WEA-Standorte, die Visualisierungspunkte und die Abstände dazwischen als auch Halte- und Parkpunkte, genaue Fahrtroute, Start und Ziel der Tour hervorgehen.
Als ein weiterer wichtiger Faktor erwies sich die genaue Kenntnis der Projekthintergründe. Das Visualisierungstool kann nur dann stimmig für die konkreten Formate wie Bustour, Ortsbegehung, Expertendiskussion oder lokalpolitischer Termin genutzt werden, wenn saubere Konflikt- oder Akteursanalysen vorliegen. Welche Gestaltungsspielräume sollen und können ausgeschöpft werden, welche Lösungsansätze sollen diskutiert werden? Daraufhin kann das Visualisierungstool passgenau vorbereitet werden. Sollen beispielsweise Planungsvarianten miteinander verglichen werden können, dann ist das bei der Einrichtung der Projektdaten zu berücksichtigen, indem mehrere Einzelprojekte angelegt werden. Hier müssen sich die planenden Akteur:innen in den Kommunen, die Prozessbegleitenden und die möglicherweise hinzugeladenen Expert:innen sehr eng absprechen, welche genauen Szenarien vor Ort betrachtet bzw. als Foto- oder Videoaufnahmen für eine spätere Verwendung gespeichert werden sollen. Ebenfalls stets wichtig: eine gut vorbereitete Moderation der Veranstaltung.
Regelmäßig kam bei Felderprobungen des AR-Tools die Frage auf, inwiefern es sinnvoll wäre, anstelle der Ad-hoc-AR-Anwendung vorab produzierte Videos am jeweiligen Fotopunkt über einen QR-Code anzuwählen. Diesen Vergleich haben wir am Ende der zweiten Testphase ermöglicht.
Hierbei zeigten sich Vorteile von
vorproduzierten AR-Videos:
- Das Betrachten der Visualisierungsszenarien ist in einer bequemeren Körperhaltung möglich. Bei der Ad-hoc-AR-Visualisierung dagegen muss das Endgerät ständig händisch auf die Landschaft gerichtet werden. Die Videos können stattdessen auch im Sitzen (etwa auf einer Parkbank) bzw. mit gesenktem Kopf betrachtet werden.
- Das Betrachten der Planungsszenarien durch vorgefertigte Videos entlastet die Nutzer:innen von den Mühen der Technikbedienung. Sie müssen nicht die Endgeräte eigenständig kalibrieren. Die Beteiligten können gewöhnliche (auch private) Endgeräte zum Betrachten der Videos nutzen, die nicht vorab vorbereitet werden müssen.
- Bei der Betrachtung von vorproduzierten Videoaufnahmen können direkte Blendungen durch Sonnenlicht o. ä. vermieden werden. Im Gegensatz dazu kann die Ad-hoc-Visualisierung per AR-Tool durch schlechte Lichtverhältnisse vor Ort (starke Helligkeit) sehr herausfordernd sein.
Aber auch die eigenständigen Ad-hoc-AR-Visualisierungen haben klare Vorteile gegenüber den Videos:
- Eine Orientierung im Gelände (Wo bin ich? Wohin schaue ich gerade?) fällt bei eigenständiger Nutzung des AR-Tools und selbst durchgeführter Kalibrierung leichter als bei bloßer Betrachtung von Videoaufnahmen vor Ort.
- Eine Ad-hoc-AR-Visualisierung kann das Gefühl der Fremdbestimmung und Verunsicherung vermindern. Beim Betrachten von Videoaufnahmen bestehen keine Interaktionsmöglichkeiten und die betrachtende Person ist auf den Blickwinkel bzw. die Kamerabewegung der Aufnahme festgelegt. Bei der AR-Visualisierung können Blickwinkel sowie Art und Geschwindigkeit der Drehbewegung beliebig selbst bestimmt werden. Die virtuellen Anlagen sind dadurch besser und deutlicher sichtbar. Auch die Ursache für das Nichtsichtbarsein von (verdeckten) Anlagen ist bei der AR-Visualisierung verständlicher zu kommunizieren, da die Verdeckung der virtuellen Anlagen selbst hervorgerufen wurde, z. B. durch Verschieben der Landschaftsmodelle (Objektivität, Transparenz der Darstellung).
- Die Nutzung von vorgefertigten Aufnahmen verstärkt somit auch die emotionale Distanz zu den Planungsinhalten. Das Video wirkt fiktionaler und inszenierter als Ad-hoc-Darstellungen. Die AR-Darstellungen können entsprechende Planungsszenarien somit realer und wirklichkeitsgetreuer abbilden als Videoaufnahmen.